Oma erzähltMein bewegtes LebenWie ich als Mädchen heimlich Bücher unter der Bettdecke gelesen habe

Wie ich als Mädchen heimlich Bücher unter der Bettdecke gelesen habe

Mit der Taschenlampe in der Hand und dem Herzen voller Abenteuer

Wenn ich heute daran denke, wie ich heimlich Bücher unter der Bettdecke gelesen habe, muss ich schmunzeln. Es war mein kleines, geheimes Ritual – mein eigenes Tor in fremde Welten, das ich mir nachts öffnete, wenn das Haus still war und niemand mehr mit mir rechnete. Die Heldinnen in den Geschichten wurden zu meinen Freundinnen, und jedes Kapitel war ein kleines Stück Freiheit, das ich mir erlas.

Ich spürte jedes Mal dieses Kribbeln, sobald ich die Bettdecke über mich zog, die Taschenlampe anschaltete und der erste Satz auf der Seite erschien. Es war, als würde eine Tür aufgehen in eine Welt, die nur für mich bestimmt war. Eine Welt, die nicht in das strenge Raster des Schulalltags passte, nicht in das wohlgeordnete Familienleben – sondern ganz mir gehörte.

Damals hätte ich nicht sagen können, warum es mir so viel bedeutete. Heute weiß ich: Diese heimlichen Lesestunden waren nicht nur spannend, sie waren mein stiller Protest gegen den Alltag, mein Weg in die Selbstständigkeit, meine Liebe zur Sprache, zur Fantasie, zum Träumen. Und vielleicht sogar mein erster Schritt zur Freiheit.

Die erste Taschenlampe, mein treuer Begleiter

Ich erinnere mich noch ganz genau an meine erste eigene Taschenlampe. Sie war rot, aus hartem Plastik, und sie roch ein bisschen nach Metall und Batterie. Ich bekam sie zu Weihnachten geschenkt – offiziell für Notfälle. Aber in Wirklichkeit wusste ich sofort, wofür ich sie benutzen würde.

Diese Taschenlampe wurde mein bester Freund. Ich versteckte sie unter dem Kopfkissen, immer griffbereit. Wenn ich abends ins Bett ging, kontrollierte ich wie ein kleiner Profi, ob die Batterien noch stark genug waren. Ich hatte sogar Ersatzbatterien versteckt, damit mir mitten in der spannendsten Stelle nicht das Licht ausging.

 

Mein Bett war mein Bücherversteck. Unter der Matratze hatte ich meine Schätze gebunkert: die „Hanni und Nanni“-Bände, Astrid Lindgren, „Die Fünf Freunde“, aber auch Bücher, die eigentlich für ältere gedacht waren. Ich war neugierig. Alles wollte ich wissen, alles in mich aufsaugen. Und wenn das Licht gelöscht wurde, begann mein Abenteuer.

Wenn die Welt schläft, wird es magisch

Nach dem Abendessen wurde das Haus leiser. Die Eltern lasen Zeitung, meine Schwester machte Hausaufgaben, irgendwann war Zähneputzen angesagt. Dann kam das „Gute Nacht“. Ich lag brav in meinem Bett, lauschte den Schritten auf dem Flur. Und sobald die letzte Tür ins Schloss fiel, schob ich die Decke über den Kopf, schaltete meine Taschenlampe ein und tauchte ab.

Es war warm, manchmal stickig, oft unbequem. Aber das machte nichts. Ich war auf geheimem Pfad, in geheimer Mission. Kein Ort war mir zu weit, kein Abenteuer zu gefährlich. Ich tauchte in die Tiefen von verwunschenen Wäldern ein, folgte Spurensuchern durch geheime Tunnelsysteme, fühlte mit Prinzessinnen, die gegen ihr Schicksal rebellierten.

Ich erinnere mich an ein Kapitel, bei dem ich so gespannt war, dass ich die Taschenlampe unter mein Kinn klemmte, um mit beiden Händen das Buch festzuhalten. Ich konnte nicht aufhören. Und ich weiß noch, wie ich bei einer besonders spannenden Szene leise aufkeuchte – und mich dann erschrak, weil ich dachte, jemand hätte mich gehört.

Es gab auch Momente, in denen mir die Augen zufielen, die Taschenlampe noch an, das Buch halb offen auf der Brust. Am nächsten Morgen wachte ich mit zerknitterten Seiten auf, aber glücklich – denn ich hatte ein kleines Abenteuer erlebt.

Die Angst, entdeckt zu werden

Natürlich hatte ich Angst, erwischt zu werden. Meine Eltern waren liebevoll, aber sie achteten streng auf Schlafenszeiten. „Kinder müssen ausgeruht sein!“ hieß es. Dass ich mich ausgerechnet mit Lesen in Schwierigkeiten bringen könnte, erschien mir damals fast ironisch.

Einmal kam meine Mutter tatsächlich ins Zimmer, weil sie Licht durch die Bettdecke leuchten sah. Ich schob blitzschnell alles unter das Kopfkissen und tat so, als wäre ich am Einschlafen. Sie sagte nur: „Du weißt, dass Lesen gut ist. Aber schlafen ist auch wichtig.“ Und dann ging sie. Ich glaube, sie wusste Bescheid – und ließ mir diesen kleinen Freiraum trotzdem.

Und genau dieser kleine Freiraum war Gold wert. Ich hatte das Gefühl, etwas ganz Eigenes zu tun. Etwas, das nur mir gehörte, das nicht kontrolliert wurde. Das war ein großer Schritt für ein Mädchen wie mich.

Die Magie der heimlichen Stunden

Das heimliche Lesen hatte etwas Aufregendes, etwas Verbotenes – und war gleichzeitig so unschuldig. Es war meine Art, mich selbst kennenzulernen. Ich entdeckte neue Gedanken, neue Welten, neue Sichtweisen. Ich lachte, ich weinte, ich fieberte mit. Ich fühlte mich verstanden von Figuren, die es nicht wirklich gab, aber die in meinem Herzen lebendig wurden.

Diese Stunden unter der Bettdecke formten meine Liebe zur Sprache. Ich begann, Wörter zu sammeln, mir eigene Geschichten auszudenken. Manche schrieb ich auf kleine Zettel, die ich unter meinem Bett versteckte. Später wurden daraus Tagebücher, kleine Kurzgeschichten, Gedichte. Und irgendwann entwickelte ich den Traum, vielleicht selbst einmal ein Buch zu schreiben.

Die ersten Geschichten, die mich prägten

Es gab Bücher, die mich besonders berührten. „Ronja Räubertochter“ zum Beispiel. Ihre Wildheit, ihr Mut, ihre Zweifel – all das sprach mich tief an. Oder „Anne auf Green Gables“, deren Fantasie keine Grenzen kannte. Ich wollte sein wie sie, wollte auch meinen Platz in der Welt finden.

Dann waren da noch Klassiker wie „Der kleine Prinz“ oder „Momo“ – Bücher, die ich erst später ganz verstand, aber die mich schon damals in ihren Bann zogen. Und natürlich die Bibliothek in unserer Stadt: ein Paradies, das ich so oft es ging aufsuchte. Immer mit der bangen Hoffnung, dass meine Eltern nichts von den überzogenen Ausleihfristen merkten.

Auch die alten, abgegriffenen Bände, die ich von Tanten und Nachbarn erbte, hatten ihren Zauber. Ich blätterte durch Seiten, auf denen Randnotizen standen, manchmal kleine Zeichnungen, eingeklebte getrocknete Blumen. Diese Bücher hatten Geschichte. Und sie erzählten mir mehr, als nur ihre Handlung.

Lesen als Rettungsring

In schwierigen Zeiten war das Lesen meine Rettung. Wenn ich traurig war, wenn ich mich ausgeschlossen fühlte, wenn ich mit meiner Schwester gestritten hatte – dann verschwand ich in meine Geschichten. Und fand Trost.

Ich erinnere mich, wie ich nach einem besonders miesen Schultag abends unter der Decke lag und mit einem Buch auf eine ganz andere Insel reiste. Es war, als ob mich jemand an die Hand nahm und sagte: „Hier darfst du sein, wie du bist.“

Manchmal war es auch einfach der Wunsch, nicht schlafen zu müssen. Nicht das Kapitel zu beenden. Noch eine Seite, noch ein Absatz, bitte. Diese kleinen Aufschübe waren für mich ein Akt des Widerstands gegen das Erwachsenwerden.

Die Kraft der Fantasie

Was ich damals unter der Bettdecke begann, ist bis heute geblieben: Mein Vertrauen in Geschichten. Mein Glaube an die Kraft der Fantasie. Ich bin kein Kind mehr, aber ich lese immer noch leidenschaftlich gern. Und manchmal, wenn ich ein besonders gutes Buch lese, schlage ich es zu und denke: „Das hätte ich damals unter der Decke gelesen.“

Ich habe auch gelernt, dass diese heimlichen Stunden nicht nur Eskapismus waren. Sie waren eine Schule fürs Leben. Ich lernte, mich einzufühlen, zu hinterfragen, Geduld zu haben. Ich lernte, dass Worte eine Welt erschaffen können – und manchmal sogar retten. Und ich lernte, dass stille Leidenschaft manchmal lauter sprechen kann als jedes gesprochene Wort.

Was ich meinen Enkeln heute mitgebe

Meine Enkel finden es herrlich, wenn ich ihnen erzähle, dass ich damals mit einer Taschenlampe unter der Decke lag. „Echt, Oma? Und du hast dich das getraut?“ fragen sie und lachen. Und dann schauen sie mich an, als sei ich eine Heldin.

 

Ich ermutige sie, selbst zu lesen, zu entdecken, Fragen zu stellen. Und wenn sie einmal heimlich weiterlesen, obwohl es schon spät ist, dann lächle ich. Weil ich weiß, dass genau dort manchmal die größten Abenteuer beginnen. Vielleicht mit einem kleinen Licht unter einer Decke – und einem Herz voller Geschichten.

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