Es war ein Nachmittag, der sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt hat. Ich war vielleicht acht Jahre alt, ein wildes, neugieriges Mädchen mit Zöpfen und aufgeschürften Knien. Unser kleines Viertel war damals noch eine überschaubare Welt aus Kopfsteinpflaster, Wäschestangen und offenen Türen. Die Menschen kannten einander, halfen sich beim Einkochen, beim Wäscheaufhängen und beim Kinderhüten. Und dann, ganz plötzlich, war da etwas Neues. Etwas, das alles veränderte: Ein Fernseher.
Die Familie Schuster – sie wohnten drei Häuser weiter – hatten ihn bekommen. Den allerersten im ganzen Viertel. Und du glaubst nicht, was das für ein Aufsehen war. Es war, als wäre ein Raumschiff gelandet. So fühlte es sich jedenfalls für uns Kinder an.
Der Tag, an dem sich alles veränderte
Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. „Die Schusters haben einen Fernseher!“, rief es von Gartenzaun zu Gartenzaun. Für uns Kinder war das ein Mysterium. Ein Gerät, in dem Menschen zu sehen waren, die nicht wirklich da waren – das konnten wir uns kaum vorstellen. Manche von uns hatten zuvor noch nicht einmal ein Radio aus der Nähe gesehen. Neugierig schlichen wir uns an das Wohnzimmerfenster der Schusters heran und spähten durch die Gardinen.
Ich erinnere mich, wie wir ganz still wurden, sobald wir näher kamen. Niemand wollte entdeckt werden – und doch konnte keiner widerstehen. Drinnen war es dämmrig, und der Bildschirm strahlte eine geheimnisvolle Helligkeit aus. Es war ein bisschen, als würde man in eine andere Welt blicken.
Es dauerte nicht lange, da wurde klar: Die Familie Schuster war überwältigt vom Besucheransturm. Und so kam es, dass sie kurzerhand beschlossen, an jedem Mittwochabend die Tür zu öffnen: Für die Nachbarn, für Freunde, für uns Kinder. Eine richtige Fernsehrunde, ganz offiziell. Es wurde unser wöchentlicher Höhepunkt.
Fernsehen war ein Ereignis – kein Zeitvertreib
Mittwoch wurde zum heiligen Tag. Schon nach dem Mittagessen waren wir aufgeregt, polierten unsere Schuhe, kämmten die Haare. Wir durften ja nicht unordentlich erscheinen. Jeder brachte etwas mit – Kekse, Apfelschnitze, manchmal auch selbstgemachte Limonade. Es war ein richtiges kleines Fest. Und wehe, jemand kam zu spät!
Das Wohnzimmer der Schusters war voll bis auf den letzten Platz. Man saß auf Stühlen, Hockern, Kissen – oder einfach auf dem Boden. Der Fernseher war ein riesiger Kasten mit kleinen Beinen, die Mattscheibe rundlich, das Bild schwarz-weiß und leicht flimmernd. Und trotzdem: Für uns war es Magie. Es war, als würden Märchen wahr werden, und das mitten in unserer Nachbarschaft.
Manche Nachbarn brachten ihre älteren Kinder mit, andere sogar die Großeltern. Es wurde gemeinsam geschaut, gestaunt, gefragt und geantwortet. Die Kinder flüsterten untereinander, die Erwachsenen tuschelten leise über das Gesehene. Manche notierten sich sogar Sendungstitel – man wollte ja mitreden können.
Die ersten Bilder, die ich nie vergaß
Ich erinnere mich noch genau: Die erste Sendung, die wir sahen, war eine Nachrichtensendung. Für uns Kinder nicht gerade spannend, aber allein die bewegten Bilder! Die Stimmen! Die Musik im Hintergrund! Das war wie Kino, nur noch aufregender – und direkt im Wohnzimmer.
Besonders war für mich das Gefühl, auf einmal Dinge sehen zu können, von denen man bisher nur gehört hatte. Bilder aus fernen Ländern, Politiker, die man sonst nur aus der Zeitung kannte, Tiere in freier Wildbahn – all das war plötzlich greifbar nah.
Später kamen Märchenverfilmungen, Heinz Erhardt, Musikshows mit Caterina Valente. Und natürlich: die legendäre Sendung „Der schwarze Kanal“, über die die Erwachsenen diskutierten, während wir Kinder mit großen Augen die Puppenkiste liebten. Besonders an Weihnachten wurde es magisch. Da wurde der Raum geschmückt, Kerzen brannten, und im Fernseher lief das Weihnachtsoratorium. Ich bekam jedes Mal Gänsehaut.
Einmal liefen Aufnahmen von einer Karnevalssitzung, und ich lachte Tränen über die Büttenreden – obwohl ich vieles gar nicht verstand. Aber die Freude war ansteckend. Und einmal sahen wir einen Auftritt von Peter Frankenfeld, der Witze riss und gleichzeitig kleine Zaubertricks zeigte. Für mich war das der Gipfel der Unterhaltung.
Eine neue Zeit bricht an
Mit dem Fernseher zog nicht nur Unterhaltung in unser Leben ein, sondern auch Wissen, Weltgeschehen, Diskussionen. Ich hörte das erste Mal von der Mondlandung, sah den Papst im Vatikan, und irgendwann später auch die Bilder vom Fall der Mauer. Als Kind verstand ich vieles davon noch nicht – aber ich spürte: Die Welt ist groß, und sie ist in Bewegung. Und ich war mittendrin.
Auch das Fernsehen selbst veränderte sich mit der Zeit. Die Sendungen wurden vielfältiger, das Programm bunter. Es kamen Serien dazu, Shows für Kinder, Bildungssendungen. Ich lernte das erste Mal etwas über andere Kulturen – und das, ohne mein Viertel zu verlassen.
Und das alles begann für mich mit einem Wohnzimmerabend bei den Schusters.
Gemeinschaft statt Einsamkeit
Was ich bis heute nie vergessen habe: Fernsehen war damals keine einsame Angelegenheit. Es war ein Gemeinschaftserlebnis. Man lachte zusammen, man staunte gemeinsam, man diskutierte hinterher. Und das verband uns – mehr, als man heute oft glaubt.
Es war auch ein soziales Ereignis: Die Fernsehmittwoche waren Treffpunkte, bei denen die Kinder ihre Freundschaften stärkten und die Erwachsenen über Politik, das Wetter und den neuesten Tratsch plauderten. Nach der Sendung blieben viele noch sitzen, es wurde Tee ausgeschenkt, manchmal ein Likörchen, und man redete bis in den Abend hinein.
Auch wenn heute jeder seinen eigenen Bildschirm in der Hosentasche trägt, fehlt mir manchmal diese Nähe. Diese besondere Wärme, wenn alle zusammenrücken und ein Stück Welt anschauen, das man sonst nie gesehen hätte. Heute zappt man sich alleine durch das Programm – damals saßen wir Schulter an Schulter und lachten gemeinsam.
Der Fernseher als Fenster zur Zukunft
Ich denke oft an die Zeit zurück, an dieses kleine, flimmernde Bild, das meine Fantasie beflügelt hat. Es hat meine Neugier geweckt, meine Sehnsucht nach Geschichten, nach der großen weiten Welt. Vielleicht wäre ich ohne diesen magischen Fernsehabend nie so lesebegeistert geworden. Vielleicht wäre ich nie so neugierig geblieben.
Ich erinnere mich, wie ich später selbst einmal vor einem leeren Karton saß und mit Wasserfarben einen Fernseher malte, so sehr hatte mich die Vorstellung fasziniert. Ich wollte selbst einmal Geschichten erzählen, Bilder zeigen, etwas erschaffen, das Menschen berührt.
Der erste Fernseher in unserer Nachbarschaft war mehr als nur ein Gerät. Er war der Beginn eines neuen Zeitalters – und für mich ein Funke, der bis heute brennt.
Was ich meinen Enkeln heute darüber erzähle
Wenn meine Enkel mich heute fragen, warum ich manchmal wehmütig werde beim Anblick einer alten Fernsehzeitschrift, erzähle ich ihnen genau diese Geschichte. Und wenn sie dann staunen, dass wir Kinder damals wirklich durchs Fenster geschaut haben, um einen Blick auf das flimmernde Wunder zu erhaschen, dann lächle ich. Weil ich weiß: Ich war dabei.
Sie schütteln dann oft den Kopf und können es kaum glauben, dass wir alle uns um einen Bildschirm drängten – während sie gleichzeitig ein Video auf dem Tablet schauen, nebenbei mit Freunden chatten und noch die Musik aus dem Lautsprecher tönt.
Und vielleicht, ja vielleicht, waren diese Abende bei den Schusters der Anfang meiner lebenslangen Liebe zu Geschichten – ob im Fernsehen, im Buch oder mitten aus dem Leben. Ich wünsche mir, dass meine Enkel auch ihre eigenen Momente der Magie erleben – vielleicht ganz anders, aber genauso prägend.