Wenn ich heute daran zurückdenke, wie ich zum ersten Mal mein eigenes Zimmer bekam, dann kribbelt es mir fast ein bisschen im Bauch. Es war nicht besonders groß. Es war nicht besonders modern. Aber es war meines. Und das veränderte alles.
Ich war ungefähr zwölf Jahre alt, als ich aus dem gemeinsamen Kinderzimmer auszog. Bis dahin hatte ich mir das Zimmer mit meiner großen Schwester geteilt. Wir waren ein gutes Team, keine Frage – aber ein bisschen wie Katz und Maus war es auch. Jeder Streit um das Licht, das Fenster oder das Radio endete meist mit Schmollerei. Und irgendwann wurde der Wunsch nach einem eigenen Rückzugsort einfach zu groß.
Es war nicht nur ein Wunsch nach Privatsphäre, sondern auch nach etwas Eigenem – einem Ort, der mich widerspiegelt. Ich wollte nicht länger nur Mitbewohnerin sein, ich wollte Raum für mich allein. Raum zum Träumen, zum Nachdenken, zum Sein.
Der große Umzug – nur ein paar Meter, aber eine neue Welt
Der Tag, an dem ich umzog, war für mich wie Weihnachten und Geburtstag zusammen. Ich weiß noch, wie mein Vater mir beim Tragen der Kisten half – Bücher, Stofftiere, ein kleines Radio und mein Lieblingskissen. Meine Mutter hatte das Zimmer frisch gestrichen. Hellgrün. Ich hatte es mir gewünscht, weil es mich an Frühling erinnerte. Es war meine Farbe. Nicht die meiner Schwester, nicht die meiner Mutter – meine.
Der Teppich war schon ein bisschen abgewetzt, und das Fenster ging zur Straße hinaus. Aber das störte mich nicht. Ganz im Gegenteil: Ich liebte es, abends die Lichter der vorbeifahrenden Autos zu beobachten und mir Geschichten auszudenken. In meinem Kopf war ich die Heldin, die in einem eigenen kleinen Schloss lebte.
Ich erinnere mich, wie ich mit großen Augen das erste Mal die Tür hinter mir schloss. Dieses leise Klicken – es klang wie ein Versprechen. Ein Versprechen, dass ich hier etwas Neues beginnen durfte. Ich ging durch das Zimmer, berührte die Wände, öffnete das Fenster, roch die frische Farbe. Ich war ganz allein – und fühlte mich zum ersten Mal ganz bei mir.
Ein Ort der Selbstbestimmung
Zum ersten Mal durfte ich selbst bestimmen, wo das Bett stehen sollte. Ich entschied mich für die Ecke neben dem Fenster. Ich durfte mein eigenes Regal einräumen, meine Bücher nach Farben sortieren – und ich hängte mir meine Lieblingsbilder an die Wand. Endlich musste ich niemanden fragen, ob das okay war. Es war mein Reich – und das fühlte sich unendlich kostbar an.
Dieser Raum wurde mein Zufluchtsort. Wenn ich traurig war, zog ich mich dorthin zurück. Wenn ich glücklich war, tanzte ich durch das Zimmer, manchmal mit der Haarbürste als Mikrofon. Ich lernte dort für die Schule, schrieb mein erstes Tagebuch, lauschte heimlich dem Radio. Es war der Ort, an dem ich anfangen durfte, ich selbst zu sein.
Oft schloss ich mich dort stundenlang ein, nicht weil ich fliehen wollte – sondern weil ich mich dort entfalten konnte. Ich sang, ich schrieb Gedichte, ich machte mir Gedanken über die Zukunft. Ich fing an, mir ein Bild davon zu machen, wer ich sein wollte.
Mein eigenes Tempo, meine eigene Ordnung
Natürlich war es nicht immer ordentlich. Aber das war das Schöne: Ich bestimmte selbst, wann ich aufräumte. Ich lernte Verantwortung – auf meine eigene Art. Wenn ich den Wecker überhörte, war niemand da, der mich schimpfte, weil ich zu spät kam. Wenn ich zu lange las, war das mein Problem. Und genau deshalb lernte ich, mit dieser Freiheit umzugehen.
Ich probierte mich aus – mit Bastelarbeiten, selbstgenähten Kissenbezügen, neuen Ideen für Möbelanordnungen. Ich malte mir aus, wie mein zukünftiges Leben einmal aussehen würde. Mein Zimmer war mein Labor. Hier durfte ich Fehler machen. Hier konnte ich träumen, ohne dass jemand lachte.
Auch meine Träume hatten endlich Raum. Ich hängte Poster auf von Orten, die ich einmal bereisen wollte. Ich schrieb Geschichten, die niemand zu lesen bekam. Ich probierte Frisuren aus, Modeideen, neue Musikrichtungen. Ich war auf Entdeckungsreise – in meinem eigenen Zimmer.
Ein Zimmer voller Erinnerungen
Bis heute kann ich mich an den Geruch erinnern. An den quietschenden Türgriff. An das Rattern der Rollos. An den ersten selbstgebastelten Traumfänger, der über meinem Bett hing. Ich weiß noch, wie ich dort zum ersten Mal Liebeskummer hatte – und mit meiner besten Freundin stundenlang telefonierte, während wir dieselbe Kassette hörten. Ich erinnere mich an lange Sommerabende mit geöffnetem Fenster, das Zirpen der Grillen, der Duft von frisch gemähtem Rasen. Dieses Zimmer war für mich ein kleines Universum.
Es war auch der Ort meines ersten Liebesbriefs – geschrieben, nicht abgeschickt. Der Ort, an dem ich mit zitternden Händen meine erste Bewerbung schrieb. Der Ort, an dem ich laut über das Leben nachdachte, auf dem Boden liegend, die Füße gegen die Wand gestemmt.
Manchmal lag ich nachts wach, hörte den Regen auf das Fensterbrett prasseln und dachte über die Welt nach. Ich stellte mir vor, wie mein Leben wohl aussehen würde, wenn ich erwachsen wäre. Und obwohl ich keine Antworten hatte, war da ein Gefühl der Geborgenheit. Mein Zimmer war mein sicherer Ort.
Warum es mehr war als nur vier Wände
Ein eigenes Zimmer bedeutete für mich nicht nur Raum – es bedeutete Freiheit. Es war der erste Schritt in Richtung Selbstständigkeit. Der Ort, an dem ich Entscheidungen treffen konnte, an dem ich spürte: Ich bin jemand. Ich darf sein, wie ich bin.
Es war mein Übungsfeld fürs Leben. Ich lernte, wie man mit sich selbst umgeht, wenn niemand zuschaut. Ich lernte, meine Gefühle zuzulassen, ohne sie verstecken zu müssen. Ich lernte, mich selbst auszuhalten – und zu mögen.
Heute sehe ich bei meinen Enkelkindern, wie wichtig genau das ist. Ein Rückzugsort, ein sicherer Raum, in dem man wachsen darf. Ein Ort, an dem man auch mal Fehler machen kann, ohne dass gleich jemand mit erhobenem Zeigefinger dasteht. Ein Ort, an dem man sich ausleben kann – ganz ohne Publikum.
Ich glaube, dieser Raum hat mich stark gemacht. Er hat mir gezeigt, dass ich in mir selbst zuhause sein kann. Dass ich mich selbst besser verstehen kann, wenn ich mich zurückziehen darf. Und dass Ruhe manchmal lauter sprechen kann als jeder Trubel.
Was ich meinen Enkeln weitergeben möchte
Ich erzähle meinen Enkeln oft von meinem ersten eigenen Zimmer. Sie lachen, wenn ich ihnen von der grünen Wandfarbe erzähle oder davon, wie ich heimlich Radio Luxemburg hörte. Aber ich sehe auch in ihren Augen, dass sie verstehen, wie besonders das war.
Ich erkläre ihnen, wie viel Freiheit in einem eigenen Raum steckt. Wie wichtig es ist, sich selbst entfalten zu können, ohne ständig beobachtet oder bewertet zu werden. Ich hoffe, dass sie ihren Raum auch als Schatz begreifen – nicht nur als Platz für Möbel, sondern als Bühne für ihre Träume.
Und manchmal, wenn ich zu Besuch bin und sehe, wie sie sich in ihre Zimmer zurückziehen, ihre eigenen Ecken gestalten, kleine Kunstwerke an die Wand hängen oder sich stundenlang mit Musik beschäftigen, dann weiß ich: Sie erleben gerade ihr eigenes kleines Stück Freiheit.
Und vielleicht werden sie eines Tages zurückblicken – und genauso lächeln wie ich heute. Weil sie wissen, dass es nicht nur ein Zimmer war. Es war der Anfang von allem.