Es ist ein Geräusch, das ich nie vergessen werde: das Klackern von Murmeln auf Asphalt, das Quietschen der Turnschuhe beim Fangenspielen und das helle Lachen von Kindern, das durch die ganze Siedlung hallte. Dazwischen das Rufen von Müttern aus Küchenfenstern: „Aber nur bis zum Laternenlicht, hörst du?“ Oder das unverkennbare Scheppern der Dosen beim Werfen, das Signal: Hier wird gerade Kindheit gelebt.
Früher – da gehörte die Straße uns. Autos waren selten, Aufpasser gab es keine, Regeln machten wir selbst. Und die Spiele, die wir spielten, hatten mehr mit Einfallsreichtum als mit Spielzeug zu tun. Heute nehme ich Dich mit auf eine kleine Zeitreise zurück in die 60er, 70er und 80er Jahre, als Nachmittage auf dem Bürgersteig spannender waren als jeder Fernsehabend. Eine Reise zu Murmeln, Kreidekunstwerken und Lachkrämpfen im Hochsommer.
Straßen als Spielplätze: Freiraum pur
Der Bürgersteig war das Spielfeld, die Bordsteinkante die Grenze, und der Gullideckel wurde kurzerhand zum Zentrum unserer Welt erklärt. Wir brauchten keinen Spielplatz mit TÜV-Zeichen – wir hatten Fantasie und die Straße direkt vor der Tür.
Jede Ecke wurde genutzt: die Hofeinfahrt als Zielscheibe, der Laternenmast als Pfosten fürs Seilspringen, die Garagenwand als Tor für den Ball. Wir hatten keine Helikoptereltern, keine Spielpläne, keine YouTube-Tutorials – dafür Improvisation, Bauchgefühl und jede Menge Energie. Die Straße war nicht nur ein Ort – sie war unsere Bühne.
Es war selbstverständlich, dass man einfach rausging und „die anderen“ traf. Ob mit Springseil, Roller oder nur mit leeren Händen – spielen konnte man immer. Unsere Eltern wussten oft gar nicht genau, wo wir waren – aber sie wussten: Wir waren gut aufgehoben, denn alle Kinder der Nachbarschaft waren Teil dieser großen Straßenspiel-Familie. Und wenn’s Streit gab, wurde der beigelegt – nicht selten mit einem Tausch: eine Glasmurmel gegen Frieden.
Klassiker, die jeder kannte
1. Himmel und Hölle (Hüpfkästchen)
Mit Kreide malten wir kunstvolle Kästchen auf den Asphalt, nummerierten sie von 1 bis 10 – und hüpften mit einem Stein durch die Welt zwischen Himmel und Hölle. Wer das Gleichgewicht verlor, musste zurück zum Anfang. Es war nicht nur ein Spiel, sondern auch eine Frage der Ehre: Wer schafft’s bis zur 10 ohne Patzer? Im Sommer war der Asphalt so heiß, dass man barfuß tanzte – aus Spiel wurde fast ein Sport.
2. Gummitwist
Ein Klassiker der Mädchengruppen – und wer es konnte, zog auch mal die Jungs mit rein. Zwei Kinder spannten ein dickes Gummiband um die Beine, das dritte sprang hinein, überkreuz, drüber – und je höher das Gummi wanderte (bis zur Hüfte!), desto spektakulärer wurde es. Dazu gab’s Sprüche wie: „Teddybär, Teddybär, dreh dich um!“ – Musik in unseren Ohren. Wir variierten, kombinierten, sangen lauthals und sprangen mit so viel Energie, als ginge es um Olympiagold.
3. Murmeln (Klicker)
Mit einem einfachen Loch im Boden begann das Turnier. Wer seine Murmeln am geschicktesten stoßen konnte, gewann – und durfte oft auch die der anderen behalten. Einige hatten richtige Ledersäckchen mit Murmeln in allen Farben: Katzenaugen, Glitzer, durchsichtige Glaskugeln – jede einzelne ein Schatz. Und wehe, jemand schummelte! Da gab’s schon mal Diskussionen, die ganze Nachmittage bestimmten.
4. Straßenfußball mit Bordstein als Tor
Zwei Jacken – schon war das Tor fertig. Und ob der Ball nun ein Lederball, ein Tennisball oder ein Gummiball war, war egal. Hauptsache, man konnte kicken. Wenn ein Auto kam, hieß es: „Achtung, Auto!“ – Spiel unterbrochen, dann weiter. Unser Spielfeld war die Straße – und das Dribbeln zwischen Schlaglöchern machte uns zu wahren Technik-Künstlern.
5. Fangen & Verstecken
In unzähligen Varianten gespielt: Wer wurde „abgeschlagen“? Wo war der beste Versteckplatz? Die älteren Kinder kannten die besten Tricks – und man fühlte sich wie ein kleiner Agent, wenn man unentdeckt blieb. Der Nervenkitzel, wenn jemand direkt an deinem Versteck vorbeilief – unbezahlbar. Und wenn man selbst suchte? Dann mit Herzklopfen und einem Lächeln im Gesicht.
6. Dosenwerfen und „Böller-Schreck“
Leere Konservendosen, ein Ball – und los ging’s! Besonders beliebt waren auch Dosen mit kleinen Knallern drin. Wer den Turm traf, rannte, was das Zeug hielt. Es war laut, wild und lustig – und keiner beschwerte sich. Im Gegenteil: Manchmal kamen Eltern sogar raus und machten mit. Einmal im Jahr gab’s sogar ein inoffizielles Turnier in unserer Straße.
7. Gummiball-Spiele: „Zehner“, „Ball über die Schnur“
Ob an der Wand oder über eine gespannte Leine – der Gummiball war der Star vieler Spiele. Besonders beliebt: „Zehner“. Dabei mussten zehn verschiedene Ball-Tricks nacheinander geschafft werden – mit Klatschen, Drehen, Hüpfen. Je weiter man kam, desto lauter wurde gejubelt.
8. Seilspringen in Gruppen
Ein langes Seil, zwei, die drehten – und in der Mitte wurde gesprungen, gesungen, gezählt. Von „Eins, zwei, drei – raus bist du!“ bis zu richtigen Choreografien mit mehreren Kindern. Das Seil flog, die Füße auch – und wir mittendrin, völlig außer Puste, aber glücklich.
Spiele mit einfachen Mitteln – und großer Wirkung
Wir brauchten keine Apps, keine Hightech-Spielsachen. Ein Seil, ein Ball, ein bisschen Kreide – mehr nicht. Aus Stöcken wurden Zauberstäbe, aus Fahrradklingeln Musikinstrumente, aus Treppenabsätzen wurden Tribünen. Unser Spielplatz war wandelbar – von einem Moment auf den anderen.
Jedes Spiel hatte seine Regeln – aber die konnten sich täglich ändern. Es gab kein „Du musst“, sondern ein „Komm, wir machen das heute mal so!“ Und genau das machte es so frei. Oft erfanden wir neue Spiele, kombinierten bestehende, gaben ihnen eigene Namen. Unsere Fantasie kannte keine Grenzen.
Die Bande von nebenan
Wir waren nicht nur Spielpartner – wir waren eine Gang. Eine Bande mit Geheimzeichen, Treffpunkten, manchmal sogar „Clubausweisen“ aus Pappe. Wir gründeten Detektivteams, entwarfen Schatzkarten, hielten „Versammlungen“ im alten Schuppen ab. Die besten Ideen entstanden auf einer umgedrehten Apfelsaftkiste, in der Mittagsstille.
Und wenn jemand Geburtstag hatte, gab’s Topfschlagen im Garten, Wasserschlachten mit Schüsseln und Bechern – und der Asphalt wurde zur Feierzone. Manchmal bastelten wir auch eigene Urkunden: „Beste Murmelspielerin des Sommers“ oder „Hüpfkönig der Straße“. Es waren kleine Gesten, die sich wie große Siege anfühlten.
Wenn’s regnete: Straßenspiele nach drinnen geholt
Auch schlechtes Wetter konnte uns nicht bremsen. Dann wurde einfach im Hausflur weitergespielt. „Ich sehe was, was du nicht siehst“, Memory mit selbstgemalten Karten oder „Stille Post“ mit kichernden Überraschungen.
Manchmal auch improvisierte Theaterstücke vor den Eltern. Oder ein modifizierter Gummitwist mit Stuhllehnen. Langeweile? Kannte niemand. Wir bauten Höhlen aus Decken, spielten „Büro“ mit Notizzetteln – und wenn wir besonders kreativ waren, entstanden sogar selbstgemachte Brettspiele aus Kartons.
Die „Straßenregeln“ von damals
Obwohl wir so frei waren, gab es unausgesprochene Regeln:
- Wer den Ball hatte, war der König – aber auch verantwortlich.
- Wer das Spielzeug mitbrachte, durfte mitentscheiden.
- „Stopp!“ hieß wirklich Stopp.
- Und wenn jemand hinfiel, hörte das Spiel sofort auf – bis alles wieder gut war.
- Der Jüngste bekam beim Zählen oft einen kleinen Vorsprung – Fairness wurde großgeschrieben.
Was blieb – und was fehlt
Wenn ich heute Kinder sehe, wie sie aufs Smartphone starren oder sich im Park langweilen, frage ich mich manchmal: Haben sie je mit Straßenkreide einen Regenbogen gemalt? Haben sie das Gefühl gekannt, völlig außer Atem zu sein, weil man beim Fangenspielen alles gegeben hat? Oder den Stolz, wenn man beim Murmelspiel den Hauptgewinn gemacht hat?
Diese Spiele haben uns stark gemacht. Kreativ. Fair. Teamfähig. Sie haben uns beigebracht, mit Streit umzugehen, uns durchzusetzen – oder nachzugeben. Und sie haben uns verbunden. Über Jahre. Über Straßen hinweg. Über Kindheiten hinaus.
Vielleicht war nicht alles besser, aber vieles war echter. Und dieses Echte – das fehlt heute manchmal. Dabei braucht es gar nicht viel: ein Seil, eine Kreide, ein Lachen. Und eine Straße, die bereit ist, zur Abenteuerzone zu werden.
Eine kleine Anregung zum Schluss
Vielleicht hast Du Enkelkinder. Vielleicht Nachbarskinder. Oder einfach Lust, mal wieder selbst eine Murmel in die Hand zu nehmen. Dann tu es. Erzähl ihnen von früher. Zeig ihnen, wie man „Himmel und Hölle“ malt. Wie Gummitwist geht. Wie man eine Dose so trifft, dass sie perfekt fällt.
Denn diese Spiele sind mehr als nur Zeitvertreib – sie sind ein Stück Kindheitskultur. Und vielleicht steckt genau darin die Magie, die wir in unserer heutigen, oft hektischen Welt manchmal vermissen.
Und wer weiß – vielleicht steht ja bald wieder irgendwo ein Kind auf der Straße und ruft: „Kommst du raus zum Spielen?“