„Welcher Tag ist heute?“, fragt deine Mutter – zum dritten Mal an diesem Nachmittag. Dein Vater steht mitten in der Nacht auf, um sich für einen Termin am Morgen fertigzumachen. Oder dein Partner erzählt, Weihnachten stehe vor der Tür – obwohl gerade Ostern war. Solche Situationen sind keine Seltenheit bei Menschen mit Demenz. Das Zeitgefühl geht verloren. Und mit ihm die Sicherheit im Alltag. In diesem Artikel erfährst du, warum das so ist – und was du tun kannst, um deinem Angehörigen liebevoll, alltagstauglich und mit Herz zur Seite zu stehen.
Warum Menschen mit Demenz die Zeit vergessen
Bei einer Demenz – vor allem bei Alzheimer – schrumpfen bestimmte Bereiche im Gehirn, die für Orientierung, Erinnerungen und Zeitgefühl zuständig sind. Besonders betroffen ist dabei der Hippocampus, der für die zeitliche Einordnung von Informationen wichtig ist.
Das führt dazu, dass:
- vergangene und aktuelle Ereignisse verschwimmen,
- Uhrzeiten, Tageszeiten und Wochentage nicht mehr korrekt zugeordnet werden,
- Routinen durcheinandergeraten,
- sich der Tag-Nacht-Rhythmus verschiebt.
Für dich als Angehörige kann das eine große Herausforderung sein. Aber: Mit Verständnis, Struktur und ein paar kleinen Alltagshilfen lässt sich viel erreichen.
Was es für deinen Angehörigen bedeutet
Wenn dein Angehöriger die Zeit vergisst, ist das mehr als ein kleiner Aussetzer. Es ist oft beängstigend. Der Verlust des Zeitgefühls nimmt Orientierung – und macht abhängig. Viele reagieren verunsichert, ziehen sich zurück oder versuchen, Fehler zu überspielen. Andere werden unruhig oder reagieren wütend, wenn du sie auf die Verwechslung hinweist.
Wichtig: Nimm diese Reaktionen nicht persönlich. Sie sind Ausdruck von Angst, Scham und Kontrollverlust. Deine liebevolle Haltung ist hier Gold wert.
Der erste Schritt: Druck rausnehmen
Bevor du aktiv wirst, gilt: Druck rausnehmen. Kein Mensch kann die Uhr in seinem Kopf reparieren. Aber du kannst helfen, dass dein Angehöriger sich trotzdem sicher fühlt.
Vermeide Sätze wie:
- „Das hab ich dir doch schon gesagt!“
- „Du hast dich vertan – heute ist Donnerstag, nicht Sonntag.“
- „Warum ziehst du dich mitten in der Nacht an?“
Stattdessen helfen Formulierungen wie:
- „Lass uns mal gemeinsam in den Kalender schauen.“
- „Möchtest du noch ein bisschen liegen bleiben? Es ist noch ganz früh.“
- „Ich glaube, da haben wir beide was durcheinandergebracht – kein Problem.“
Struktur schaffen – Sicherheit geben
Menschen mit Demenz blühen auf, wenn ihr Tag vorhersehbar und vertraut ist. Eine gute Tagesstruktur hilft, das verlorene Zeitgefühl auszugleichen.
Das kann helfen:
- Feste Tagesabläufe: Aufstehen, Essen, Ruhezeiten und Schlafenszeit möglichst gleich halten.
- Tagespläne sichtbar machen: z. B. auf einer Tafel oder einem laminierten Blatt mit Symbolen.
- Rituale einführen: z. B. Morgentee am Fenster, Nachrichten schauen nach dem Mittagessen, Lieblingsmusik vor dem Zubettgehen.
- Zeitgeber nutzen: bestimmte Melodien, Düfte (Kaffee am Morgen), Lichtstimmungen.
Uhren, Kalender und Co. – kleine Helfer mit großer Wirkung
Es gibt viele Produkte, die speziell für Menschen mit Demenz entwickelt wurden und ihnen helfen können, sich besser zu orientieren.
Hier ein paar Empfehlungen:
- Kalenderuhren: große digitale Anzeigen mit Datum, Wochentag, Tageszeit (z. B. „Montag, Vormittag“).
- Tageslichtlampen mit Zeitschaltuhr: simulieren Sonnenaufgang und helfen bei Schlaf-Wach-Störungen.
- Analoge Uhren mit klaren Ziffern: manche Betroffene verstehen diese besser als digitale Anzeigen.
- Stundenpläne zum Anfassen: z. B. Bildkarten mit Aktivitäten, die man zusammen umdreht oder verschiebt.
Wichtig: Neue Hilfsmittel frühzeitig einführen – bevor die Verwirrung zu groß ist. So können sich dein Angehöriger daran gewöhnen.
Räume und Umgebung zeitorientiert gestalten
Nicht nur Uhren helfen beim Zeitgefühl – auch deine Umgebung kann dazu beitragen.
Tipps für die Wohnung:
- Tageslicht nutzen: Helle Räume am Tag, gedimmtes Licht am Abend.
- Fenster nicht vollständig verdunkeln: So bleibt ein Gefühl für Tageszeiten.
- Raumgestaltung mit Symbolwirkung: Frühstückstisch am Morgen, TV-Ecke abends, Bett nur zum Schlafen.
- Nicht zu viele Uhren: Eine gut sichtbare Uhr reicht. Zu viele Anzeigen können verwirren.
Was tun, wenn Tag und Nacht sich vertauschen?
Ein häufiges Problem bei Demenz ist der gestörte Tag-Nacht-Rhythmus. Manche Menschen schlafen tagsüber viel – und sind nachts wach und unruhig.
Was helfen kann:
- Tageslicht am Morgen: z. B. Spaziergang, Tageslichtlampe, Frühstück am Fenster.
- Bewegung tagsüber: leichte Gymnastik, Hausarbeit, Spaziergänge.
- Weniger Reize am Abend: kein TV, keine spannenden Gespräche, gedämpftes Licht.
- Ruhige Rituale: z. B. Lavendelduft, beruhigende Musik, ein warmes Getränk.
- Schlafrhythmus beobachten: manchmal hilft ein Schlaftagebuch, um Muster zu erkennen.
Wenn nichts hilft: Sprich mit dem Arzt oder der Ärztin über die Schlafsituation. Manchmal sind Medikamente oder andere Maßnahmen sinnvoll.
Wenn dein Angehöriger Termine vergisst
Ob Arztbesuch, Familienfeier oder Frisör – vergessene Termine können Stress verursachen. Für dich und für deinen Angehörigen.
Was hilft:
- Erinnerungen schriftlich festhalten: z. B. in einem Kalender, den ihr gemeinsam führt.
- Erinnerungen sichtbar platzieren: z. B. an der Kühlschranktür oder am Badezimmerspiegel.
- Gemeinsames Durchgehen am Vorabend: „Morgen ist unser Arzttermin, ich freu mich auf unseren Ausflug.“
- Erinnerung per Wecker oder Uhr mit Sprachausgabe: wenn es noch verstanden wird.
Und wenn ein Termin verpasst wurde: Atme tief durch. Meist ist es nicht dramatisch – wichtig ist, dass dein Angehöriger sich trotzdem angenommen fühlt.
Wenn Zeit nicht mehr verstanden wird
Irgendwann kommt oft der Moment, an dem dein Angehöriger Zeit nicht mehr nachvollziehen kann – selbst mit Uhren, Kalendern und Struktur. Dann geht es nicht mehr um Orientierung, sondern um Begleitung.
In dieser Phase helfen vor allem:
- Annehmen statt erklären. Wenn dein Angehöriger denkt, es sei Sonntag – dann ist es eben Sonntag.
- Emotionale Orientierung. Frage nicht: „Weißt du, wie spät es ist?“ – sondern: „Wie fühlst du dich gerade?“
- Im Moment leben. Gemeinsame Momente sind wichtiger als das „richtige“ Datum.
Für dich als Angehörige: Umgang mit Frust und Erschöpfung
Wenn du zum zwanzigsten Mal erklärst, dass es Montag ist – und dein Angehöriger wieder fragt: „Gehen wir heute zur Kirche?“ – dann ist das ermüdend. Es ist okay, wenn du müde bist. Es ist okay, wenn du genervt bist. Und es ist okay, wenn du Hilfe brauchst.
Was du tun kannst:
- Sprich mit anderen Angehörigen. Du bist nicht allein.
- Hol dir Unterstützung. Tagespflege, Pflegedienst, Ehrenamtliche.
- Mach dir selbst keine Vorwürfe. Auch du brauchst Orientierung und Erholung.
- Schaffe dir eigene Rituale. Ein Spaziergang, ein Tagebuch, ein freier Abend – das hält dich seelisch gesund.
Fazit: Sicherheit statt Zeitgefühl
Wenn dein Angehöriger die Zeit vergisst, ist das schmerzhaft – für ihn, für dich, für euch beide. Aber mit Liebe, Struktur und kleinen Hilfen kannst du viel bewirken. Du kannst ihm Halt geben, wenn die Welt sich verschiebt. Und du kannst dir selbst Gutes tun, damit du diese Aufgabe nicht nur schaffst – sondern mit Herz erfüllst.
Denn am Ende zählt nicht, ob Dienstag oder Freitag ist – sondern dass ihr gemeinsam da seid. Im Jetzt. Im Miteinander. Und im Vertrauen, dass Nähe auch dann trägt, wenn die Zeit verrinnt.