Es war ein Nachmittag wie viele andere, als mein Enkel mich ansah und fragte: „Oma, wer war Opa eigentlich?“
Die Frage traf mich nicht unvorbereitet, aber mitten ins Herz. Mein Mann, sein Opa, war für mich ein ganzes Leben lang ein Begleiter, für ihn aber nur ein verschwommener Name, ein Gesicht auf einem alten Foto, vielleicht eine Erinnerung an eine große Hand oder ein Lachen. Ich wusste, dieser Moment war wichtig. Für ihn. Und für mich.
Denn was bleibt von einem Menschen, wenn er nicht mehr da ist? Die Erinnerung. Die Geschichten. Die Liebe, die weiterlebt. Und so begann ich, meinem Enkel von Opa zu erzählen. Mal leise, mal laut. Mal mit Tränen in den Augen, mal mit einem herzlichen Lachen. Hier möchte ich Dir davon erzählen. Vielleicht, weil Du ähnliche Gespräche führst. Oder weil Du Dich fragst, wie Du einem Kind den Menschen nahebringst, den Du selbst so sehr vermisst.
Wenn kleine Fragen große Gefühle wecken
Kinder fragen oft geradeheraus. Ohne Scheu, ohne Rücksicht auf Timing oder Stimmung. Mein Enkel wollte einfach wissen, wer dieser Opa war. Und ich wollte, dass er mehr erfährt als nur Geburts- und Sterbedatum. Ich wollte, dass er spürt, wie sehr dieser Mann geliebt hat. Und wie sehr er geliebt wurde.
Ich holte ein altes Fotoalbum. Wir blätterten gemeinsam. Ich zeigte ihm Opa in jungen Jahren. Mit langer Mähne, auf dem Motorrad. Im Anzug bei unserer Hochzeit. Mit Baby auf dem Arm, im Urlaub, beim Schneemannbauen. Ich erzählte ihm von Opas Vorlieben – wie sehr er Zimt liebte, wie er alte Westernfilme schaute und bei Familienfesten nie als Erster zum Kuchenbuffet ging, obwohl er der größte Schleckermaul war.
„Das war dein Opa“, sagte ich. „Er war mutig, lustig, manchmal stur, aber immer herzlich.“
Geschichten aus dem Alltag
Ich begann, kleine Anekdoten zu erzählen. Wie Opa immer das letzte Stück Kuchen haben wollte, aber es mir dann heimlich auf den Teller schob. Wie er samstagmorgens das Radio aufdrehte und beim Fensterputzen sang. Wie er mir Briefe schrieb, wenn wir uns gestritten hatten.
Ich erzählte meinem Enkel, dass Opa immer einen besonderen Platz auf dem Sofa hatte, dass sein Kaffeebecher ein Sprung hatte, den er nie klebte, und dass er immer seine Socken verlor. Und ich erzählte auch von seinen Eigenheiten – dass er nie ohne seine geliebte Schirmmütze aus dem Haus ging, dass er bei Kreuzworträtseln manchmal schummelte und dass er bei jeder Autofahrt eine bestimmte Route fuhr, selbst wenn es einen kürzeren Weg gegeben hätte.
Es waren keine großen Heldengeschichten. Aber es waren echte Geschichten. Und genau das machte sie so besonders.
Opa als junger Mann
Mein Enkel war erstaunt, als ich ihm erzählte, dass Opa auch mal ein Kind war. „Er hat auch mit Murmeln gespielt?“ fragte er. Ja, hat er. Und Fußball im Hof. Und einmal hat er aus Versehen die Fensterscheibe der Nachbarn kaputt geschossen. Und er war ein begeisterter Kletterer – auf Bäume, auf Mauern, überall, wo es möglich war.
Ich zeigte ihm ein Foto von Opa als Junge. „Sieht aus wie Papa!“, rief mein Enkel. Und tatsächlich – die gleiche Nase, das gleiche Grinsen. In diesem Moment wurde Opa für ihn real. Nahbar. Kein Geist aus der Vergangenheit, sondern ein Teil der Familie. Ich erzählte, wie Opa mit seiner Schwester gestritten hatte, wie sie sich aber auch gegen die größeren Kinder im Viertel verbündet hatten. Wie er seine erste Uhr mit 12 bekam – und sie in der ersten Woche im Schwimmbad vergaß.
Von Liebe und Zusammenhalt
Ich sprach auch über unsere Ehe. Wie wir uns kennengelernt haben – bei einer Busfahrt, weil ich mich neben ihn setzen musste. Wie wir gestritten und versöhnt, gelacht und geweint haben. „Hat Opa dich lieb gehabt?“ fragte mein Enkel. Ich nickte. „Sehr. Und ich ihn auch.“
Ich erklärte ihm, dass Liebe nicht immer laut ist. Dass sie oft in den kleinen Dingen steckt. Im Tür aufhalten. Im Lieblingsessen kochen. Im Zuhören. Im Dableiben, auch wenn’s mal schwer wird. Ich erzählte, wie Opa mir eine Thermoskanne mit Tee ins Auto stellte, wenn ich früh zur Arbeit musste. Wie er mir manchmal kleine Zettelchen in die Tasche steckte mit einem einfachen: „Ich denk an dich.“
Diese Geschichten waren kein romantisches Märchen. Sie waren ehrlich. Und sie vermittelten ihm ein Gefühl für das, was Opa und ich miteinander hatten.
Opa als Papa
Ich berichtete auch davon, wie Opa als Vater war. Streng, aber gerecht. Mit viel Herz, aber auch mal mit Geduld am Limit. Ich erzählte, wie er unseren Sohn beim Radfahrenlernen begleitet hat. Wie er in der Nacht aufstand, wenn eines der Kinder krank war. Wie er sich über die ersten Zahnlücken freute.
„Hat er Papa auch mal angeschrien?“ fragte mein Enkel. „Oh ja,“ lachte ich. „Aber nur, wenn er großen Unsinn gemacht hat. Und danach hat er ihn ganz fest gedrückt.“ Ich erzählte, wie Opa nie zu müde war, um eine Geschichte vorzulesen. Wie er auf dem Boden saß, um mit den Kindern Lego zu bauen. Wie er bei jedem Elternabend nervöser war als ich.
Und auch davon, wie stolz er war, als unser Sohn zum ersten Mal allein zur Schule lief. Wie er vor dem Fenster stand, bis er sicher um die Ecke gebogen war. Und wie er manchmal heimlich ein kleines Geschenk besorgte, einfach nur, weil der Tag anstrengend gewesen war.
Die großen Werte, die bleiben
Ich wollte meinem Enkel auch vermitteln, was Opa wichtig war. Freundlichkeit. Zuverlässigkeit. Nicht lügen. Immer erst denken, dann reden. Und dass man nie zu alt ist, um Neues zu lernen.
Ich erinnere mich an einen Satz, den Opa oft sagte: „Fehler machen darf jeder. Nur draus lernen muss man.“ Diesen Satz schrieb ich mit Kreide auf die Tafel in der Küche. Mein Enkel las ihn laut vor. Und nickte.
Ich sprach auch darüber, wie Opa mit anderen Menschen umging. Dass er immer grüßte – egal ob Nachbar oder fremder Postbote. Dass er bei jedem Umzug half, auch wenn sein Rücken streikte. Und dass er nie wegschaute, wenn jemand Hilfe brauchte.
Ich wünschte mir, dass mein Enkel genau das mitnimmt. Dass es nicht auf Perfektion ankommt, sondern auf Herz. Auf Haltung. Auf Menschlichkeit.
Wenn Trauer Raum bekommt
Ich habe meinem Enkel auch gesagt, dass ich Opa vermisse. Dass ich manchmal traurig bin. Dass es okay ist zu weinen. Auch für Erwachsene. Und dass Erinnern etwas Schönes sein kann.
Wir haben zusammen eine Kerze angezündet. Haben Fotos aufgestellt. Und mein Enkel legte ein gemaltes Bild daneben. „Für Opa im Himmel“, sagte er. Ich musste schlucken. Und ich lächelte.
Ich zeigte ihm auch den Brief, den ich nach Opas Tod an ihn geschrieben hatte. Den ich nie abgeschickt habe, aber immer aufbewahrte. Mein Enkel bat mich, ihn vorzulesen. Und so las ich – von Dankbarkeit, Schmerz, Hoffnung und Liebe. Wir saßen lange still danach.
Ein Platz im Herzen
Ich möchte, dass mein Enkel weiß: Auch wenn Opa nicht mehr da ist, bleibt er Teil unseres Lebens. In Geschichten. In Fotos. In Gesten, die wir weitergeben.
Ich sehe ihn manchmal im Blick meines Enkels. In seinem Lachen. In seiner Art, Fragen zu stellen. Und dann spüre ich: Die Liebe hört nicht auf. Sie verändert nur ihre Form.
Wir haben einen kleinen Platz im Garten geschaffen – mit einer Bank, ein paar Pflanzen und einem Windspiel. Dort sitzen wir manchmal. Und reden. Über Opa. Über das Leben. Über alles, was uns bewegt.
Was ich meinem Enkel mitgeben will
Ich erzähle ihm nicht nur von Opa. Ich erzähle ihm vom Leben. Vom Mut, sich einzulassen. Vom Wert der Familie. Von der Kraft der Erinnerung.
Ich will, dass er spürt: Es ist schön, jemanden vermissen zu dürfen. Weil es zeigt, wie viel er uns bedeutet hat. Und weil wir durch diese Gefühle wachsen.
Ich wünsche mir, dass mein Enkel nicht nur weiß, wer Opa war – sondern dass er ihn spürt. In den Geschichten, im Alltag, in seinem eigenen Herzen. Dass er daraus Kraft schöpft. Und dass er eines Tages, wenn er selbst gefragt wird, sagen kann: „Ich kenne ihn – aus Omas Geschichten. Und die trage ich weiter.“
Ich hoffe, dass mein Enkel später einmal mit genauso viel Liebe von uns erzählt, wie ich es heute tue. Und dass er weiß: Die Geschichten, die wir weitergeben, sind das Wertvollste, was bleibt.